„Ordnung kann man nicht verordnen. Sie ist sehr individuell.“ – Interview mit Aufräumexpertin Gunda Borgeest

Aufräumen hat in den letzten Jahren einen regelrechten Hype erfahren. Überall auf der Welt entrümpeln Menschen ihre Wohnungen und Häuser. Zu den Top-Aufräumexpertinnen in Deutschland gehört Gunda Borgeest, die seit 2014 Menschen dabei unterstützt, die für sie passende Ordnung zu finden.

Gunda Borgeest, Aufräumberaterin


Frau Borgeest, wie wird man eigentlich Aufräumberaterin?

Ich bin von meiner Ursprungsprofession Literatur- und Filmwissenschaftlerin und Sinologin. Ich habe lange an der Filmhochschule in München gearbeitet und dort einen neuen Lehrstuhl mit aufgebaut. Dann kam der Punkt, mit knapp 50, da habe ich gemerkt: Mit Stellenbewerbungen funktioniert es nicht mehr. Obwohl ich qualifiziert war, wurde ich wegen meines Alters nicht mehr zu Vorstellungsgesprächen eingeladen. Mir wurde klar: Ich muss mich beruflich nochmal komplett neu erfinden. Weil ich schon immer gerne mit Menschen gearbeitet habe und Freunden schon oft beim Einrichten, Verschönern, Ausmisten oder bei der Neugestaltung ihrer Wohnungen geholfen hatte, konnte ich daraus meine Arbeit als Ordnungsexpertin entwickeln.

Und dann haben Sie sich dafür entschieden, Menschen beim Aufräumen zu helfen? 

Es begann mit einer Freundin, der ich beim Aussortieren und bei der Neugestaltung ihrer Wohnung geholfen habe. Wir haben zum Beispiel einen großen Esstisch, der die ganze Küche blockiert hat, ins Wohnzimmer geräumt. Plötzlich konnte meine Freundin, die sehr gerne kocht, wieder Freunde einladen, für die es vorher in der Küche gar keine Stühle gab. Ein befreundeter Journalist schrieb über diese Geschichte einen Artikel und einige Wochen später war ich schon fast ausgebucht.

Wie sieht denn die typische Kundschaft aus, die Sie um Tipps beim Aufräumen fragt?

Tatsächlich sind 90 Prozent meiner Kunden weiblich. Das liegt nicht unbedingt daran, dass Frauen unordentlicher sind als Männer. Aber ich denke, dass es Frauen leichter fällt, andere um Hilfe zu bitten. Ich berate Menschen jeden Alters aus nahezu allen Gesellschaftsschichten: Singles, Familien und Paare.

Gibt es dennoch Besonderheiten bei Ihren Kund:innen – etwas, das alle miteinander verbindet?

Oft sind es Menschen, die eine schwere Lebenskrise hinter sich haben. Sie wollen ihr Leben konsolidieren und einen Neubeginn wagen, zum Beispiel nach dem Tod des Partners von einem großen Haus in eine kleinere Wohnung ziehen. Aussortieren und Loslassen sind in diesem Zusammenhang wichtige Prozesse. Wer im Außen Ordnung schafft, wird oft auch innerlich klarer.

Das klingt ja schon fast nach einem persönlichen Coaching oder einer Art Therapie.

Und genau das ist es, was mich an meiner Arbeit vor allem interessiert: Ich begleite Menschen in Befreiungsprozessen! Die dingliche Befreiung ist oft die Voraussetzung für mehr Leichtigkeit im Leben. Wenn sich jemand zum Beispiel von Büchern trennt, für deren Lektüre er gar keine Zeit hat, trennt er sich auch von dem mahnenden „Auftrag“, sie lesen zu müssen. Denn viele Dinge rufen uns zu: Benutz mich endlich mal wieder, reparier mich, verstau mich etc.. Diese (unterbewussten) Aufträge können viel Lebensenergie binden. Deshalb sind äußere und innere Befreiungen oft eng miteinander verbunden. Diese Prozesse sind sehr individuell, da nutzen standardisierte Ordnungsprinzipien gar nichts.  

Das bedeutet, es gibt nicht die eine Lösung für Ordnung, die für alle Menschen gleichermaßen passt?

Nein, die gibt es nicht. Und genau das ist auch meine Kritik an Marie Kondo. Ich bin ihr dankbar, dass sie mit ihren Büchern und mit der Netflix-Serie „Aufräumen mit Marie Kondo“ dem Thema zu größerer Aufmerksamkeit verholfen hat. Aber ihre Methode ist aus meiner Sicht zu schematisch und geht nicht auf die Bedürfnisse des Einzelnen ein. Sie hinterfragt zum Beispiel nicht, wie es überhaupt zu all diesen Anhäufungen gekommen ist, ob ein Mensch das Gefühl von innerer Leere vielleicht mit all seinem Konsum überdecken will und was der Einzelne für sein Wohlbefinden braucht. Es gibt zum Beispiel Menschen, die leere Schreibtische brauchen, um sich konzentrieren zu können. Andere benötigen dort inspirierende Dinge, um kreativ arbeiten zu können. Es geht mir also nicht darum, Ordnung zu verordnen, sondern die jeweils passende Struktur und Ordnung zusammen mit den Menschen zu entwickeln, die sich an mich wenden. 

Wie sieht es mit der Ordnung im Alltag aus? Zwischen morgens schnell die Kinder fertig machen, arbeiten und abends kochen fehlt ja mitunter die Zeit zum Aufräumen?

Beim alltäglichen Aufräumen geht es vor allem darum, regelmäßig Zeit dafür einzuplanen. Man kann beispielsweise jeden Abend ein gemeinsames Aufräumritual als Familie machen: Eine halbe Stunde vor dem Abendessen räumt man zusammen mit den Kindern auf. Wenn Kinder das früh lernen und wertschätzend von ihren Eltern begleitet werden, kann man oft die klassischen Konflikte und Streitereien rund ums Aufräumen verhindern oder zumindest reduzieren. Zu diesem Thema ist kürzlich mein Buch „Das große Aufräumbuch für die ganze Familie“ (Carlsen-Verlage) erschienen.

Welche andere Ebene gibt es noch, wenn ich systematisch aufräumen will?

Es ist wichtig, zwischen dem täglichen Aufräumen und dem Ausmisten, also der (einmaligen) „Tiefenreinigung“ zu unterscheiden. Wenn man nach dem großen Aussortieren nur noch Dinge besitzt, die man wirklich mag und braucht und wenn diese Dinge einen eindeutigen Platz bekommen, dann ist die alltägliche Ordnung schnell und unproblematisch herzustellen. Wenn ich weiß, wo die Schere hinkommt, kann sie auch verräumt werden. Wenn ich statt fünf nur noch einen Klebestift habe, kann er in der richtigen Schublade verschwinden. 

Warum fällt es uns so schwer, gezielt aufzuräumen und auszumisten?

Beim Aussortieren geht es ums Loslassen. Schwer wird es oft, weil die Dinge eng mit unserer Vorstellung von Identität und Sicherheit verbunden sind. Denn Dinge können uns Halt geben und uns in der Welt „verorten“. Jemand, der seine alten Studienunterlagen nicht loslassen kann, hat vielleicht die Angst, etwas Wichtiges von sich selbst wegzugeben. Jemand, der die Lieblingstasse eines verstorbenen Angehörigen nicht weggeben kann, glaubt, dass er den Verstorbenen damit noch mehr verliert. Ich gebe dann zu bedenken, dass die Erinnerung an den Menschen in uns ist und nicht in der Ansammlung von Atomen steckt, die man Tasse nennt. Sätze wie „Das kann man nochmal gebrauchen“, „Das hat mal viel Geld gekostet“ oder „Das habe ich geschenkt bekommen“ können uns am Loslassen hindern.

Jetzt habe ich mich von Dingen getrennt und sie in Kisten verstaut. Wie kann ich die alten Sachen nachhaltig entsorgen?

Bei der Weitergabe der Dinge nach dem Aussortieren ist Folgendes zu beachten:

  • Bitte nichts wegwerfen, was noch gut bzw. intakt ist. Andere Menschen, die wenig oder gar nichts haben, freuen sich darüber!
  • Aussortierte Sachen zum Beispiel zu Gebrauchtwarenkaufhäusern, Kleiderkammern oder einer Obdachlosenhilfe bringen. Gerne auch im Flüchtlingsheim anfragen, was gerade gebraucht wird.
  • Informieren, wo es im Umkreis, Abgabestellen gibt. Diese Website hilft dabei: www.wohindamit.org.
  • Dinge zu spenden hilft beim Loslassen. Es geht einfacher, wenn man weiß, dass Omas Geschirr oder das Werkzeug des Onkels nicht im Müll landen, sondern andere Menschen erfreuen. 


Was kann ich tun, wenn mich die Unordnung stört, aber gleichzeitig die Motivation zum Aufräumen fehlt?

Es hilft, sich Menschen zu suchen, die einen dabei unterstützen. Ob Partner:innen, beste Freundinnen oder eine Aufräumexpertin ist: Zu zweit geht es besser und macht mehr Spaß. Und dann sind Pausen und kleine Belohnungen wichtig. Fürs Aussortieren sollten jeweils 3-4-Stunden-Etappen eingeplant werden. Man sollte zwischendurch aber auch mal eine Kaffee-Pause oder sich einen Moment nach draußen in die Sonne setzen. Die aussortierten Dinge sollten direkt im Anschluss zu einer Spenden-Annahmestelle gebracht werden. Erst dann stellt sich ein wirkliches Befreiungserlebnis ein.

Haben Sie abschließend ein paar Tipps, die unseren Leserinnen und Lesern das Aufräumen erleichtern? 

Tipp 1: Regelmäßige, verbindliche Aussortier-Etappen im Kalender eintragen und dranbleiben! 

Tipp 2: Nach Kategorien aussortieren (Bücher, Schuhe, Taschen etc.), nicht nach Schrank- oder Schubladeninhalten. Nur so sieht man, wie viel man von einer Kategorie hat und kann besser loslassen. 

Tipp 3: Beim Aussortieren drei Kartons benutzen: 

  • Verkaufen
  • Spenden / Verschenken
  • Reparieren.
  • Alles, was defekt ist und sich nur mit größerem Aufwand reparieren ließe, in reißfesten Mülltüten entsorgen.


Zahlreiche weitere Tipps gibt es in meinem Buch „Ordnung nebenbei“, das von der Stiftung Warentest herausgegeben wurde.

Frau Borgeest, vielen Dank für das Gespräch!


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