Survivor-Sprechstunde für junge Krebsüberlebende in Tübingen
Die angehende Ärztin und Krebsüberlebende Pia Sailer berichtet, wie ihr die Tübinger Survivor-Sprechstunde in der Nachsorge half.
Auffangort Survivor-Sprechstunde
Die angehende Ärztin Pia Sailer weiß, wie es ist, wenn das Leben als Jugendliche durch eine Krebserkrankung aus dem Gleichgewicht gerät. Die Survivor-Sprechstunde der Kinderklinik in Tübingen richtet sich an alle ehemaligen Patientinnen und Patienten, die in ihrer Kinder- und Jugendzeit an Krebs erkrankten und behandelt wurden. Ziel ist die Früherkennung von therapiebedingten Spätfolgen. Seit 2021 ist die Survivor-Sprechstunde für diese Patientinnen und Patienten eine wichtige Anlaufstelle für individualisierte medizinische und psychoonkologische Check-ups.
„Du siehst doch wieder ganz normal aus!“ Diesen Satz kennt Pia Sailer nur zu gut. Die 24-Jährige hat ihn oft genug gehört. Eine nicht auf den ersten Blick erkennbare ernsthafte Krankheit prägte ihre Jugend: Leukämie, Blutkrebs. So lautete die Diagnose bei der damals 13-Jährigen. Ein Zufallsbefund. Dann begann ein zweijähriger Therapiemarathon. „Ich war in der 9. Klasse wieder da, nur ohne Haare“, sagt sie. Heute trägt die junge Frau lange brünette Haare und steht vor dem Abschluss ihres Medizinstudiums. Eine gänzlich andere Situation als damals, als keineswegs jede:r Lehrer:in oder Mitschüler:in verstand, dass die komplette Genesung nach einer Krebstherapie lange dauern kann und viele Patient:innen nach der Behandlung mit Erschöpfungsphasen, Fatigue-Symptomen und Konzentrationsschwierigkeiten zu kämpfen haben. „Das Wieder-Zurückfinden in den Alltag und die Kommentare von der Seite waren oft sehr hart“, sagt Pia Sailer.
Gut behütet bei der interdisziplinären Nachsorge in der Survior-Sprechstunde
Therapien, Erschöpfung und unbedachte Sprüche aus dem persönlichen Umfeld belasten Krebs-Überlebende genauso wie die Sorge um die dauerhafte Genesung. Menschen wie Pia Sailer sind ‚Survivor‘, Überlebende einer Krebserkrankung: „So eine Therapie ist sehr zehrend für den Körper und ein Trauma für die Seele in jungen Jahren. Viele sind und bleiben chronisch kranke Kinder.“
Diese Belastung aufzufangen, durch Untersuchungen und Gespräche Klarheit zu schaffen und die Psyche zu entlasten, ist eine besondere Aufgabe an der Tübinger Klinik für Kinder- und Jugendmedizin. Der Förderverein für krebskranke Kinder Tübingen e. V. baut mit der 2021 in Tübingen gestarteten Survivor-Sprechstunde dieses langfristige, interdisziplinäre Nachsorgeangebot auf. Die CHERRISK-Community unterstützte das Projekt mit einer 12.000-Euro-Spende. Eine Arzt- und eine Psychologenstelle in Tübingen können durch Spenden wie die aus der CHERRISK-Community finanziert werden.
Unter dem Motto „Nachsorge ist Vorsorge“ arbeiten bundesweit zehn interdisziplinäre Kinder- und Jugendnachsorge-Sprechstunden im Rahmen des Projektes LESS ‚Late Effects Surveillance System‘, das Professor Dr. Thomas Langer aus Lübeck ins Leben rief. Wer älter als 18 Jahre alt ist und länger als fünf Jahre nach einer Behandlung weiterhin „so behütet wie in der Kindermedizin“ betreut werden möchte, ist dort gut aufgehoben. „Ich bin da ziemlich gut herausgekommen, hatte echt viel Glück. Nach dem ersten Chemotherapieblock wurde entschieden, dass keine Stammzelltransplantation nötig war“, sagt Pia Sailer.
Erwachsennachsorge: „Es kann manchmal sehr ungemütlich sein“
Im regulären Programm der Krankenkassen ist eine individuelle, medizinisch sowie psychoonkologisch gut verschränkte Nachsorge für Kinder und junge Erwachsene nach fünf Jahren abgeschlossen. In der Kinderklinik in Tübingen läuft die engmaschige Nachsorge mit regelmäßigen Check-ups spätestens nach zehn Jahren aus. Dieser radikale Bruch mit der Nachsorge ist für viele Patient:innen nicht leicht, und viele möchten den für sie jahrelang so wichtigen Kontakt an ihr Behandlungszentrum nicht verlieren. „Manchmal muss man da sehr für sich einstehen und viel für sich kämpfen. Das kann sehr ungemütlich sein.“
An diesem Punkt greift die Survivor-Sprechstunde mit ihrem multiprofessionellen und individualisierten Behandlungsangebot. „So eine ganzheitliche Nachsorge ist luxuriös“, weiß Pia Sailer, die seit 2021 das Angebot in Tübingen nutzt. Sie kommt aus einer nahen Kleinstadt und studiert nun in derselben Stadt, in der sie selbst als Jugendliche behandelt wurde. Pia Sailer nimmt sich viel Zeit, um mit ruhiger Stimme und immer wieder einem herzlichen Lachen zu erklären, was eine Erkrankung, Behandlung und deren Folgen bedeuten. Eine Welt zwischen Wartezimmern, Untersuchungen und Behandlungen, die teils schmerzhaft und meist lang sind. Eine Zeit mit viel Fremdbestimmung und körperlichen Übergriffen, denen Eltern ihre Kinder trotz inniger Begleitung aussetzen müssen. Das können insbesondere die ganz Kleinen nicht selbst bewusst wahrnehmen. Geschweige denn die Menschen drumherum. „Viele verstehen nicht, dass die meisten Patient:innen nach Abschluss der regulären Nachsorge weiterhin gesundheitliche Belastungen und Sorgen haben. Viele Probleme sowie Folgen der Krebserkrankung und der intensiven Therapie zeigen sich erst nach einigen Jahren. Viele niedergelassene Ärzte oder Ärzt:innen ohne onkologische Vorerfahrung können dabei oft nicht ausreichend weiterhelfen.“
Pia Sailer setzt sich für die Survivor-Sprechstunde auch öffentlich ein, so etwa in diesem SWR-Radiobeitrag. Mit ihrer aufmerksamen, warmherzigen Art ist sie eine ruhige, fachlich versierte und sehr sicher eine überzeugende, herzlich-authentische Botschafterin der Sprechstunde.
Regelmäßiger ‚Nachsorge-Tag‘ mit Check-ups und Gesprächen
Pia Sailer geht zwei Mal jährlich zur Survivor-Sprechstunde, die in der Praxis eher ein ‚Survivor-Tag‘ für sie ist: morgens erst ein großes Blutbild, dann das Arztgespräch. „Es ist mir enorm wichtig, dass ich mich regelmäßig durchchecken lasse und abgesichert bin.“ Bei Bedarf folgen weitere Untersuchungen, etwa eine Sonografie oder ein EKG. Zum Abschluss gibt es ein weiteres Gespräch mit dem Arzt und zum Mitnehmen einen umfassenden Arztbrief. Manchmal beunruhigen Symptome: „Damals in der Vorklinik hatte ich einen schnellen Puls.“ Pia Sailer ist angehende Ärztin, studiert in Tübingen und wird im Herbst 2024 ihr Studium abschließen. „Ich hatte einfach Prüfungsängste und habe das angesprochen. Es war letztlich nichts.“ Gut, wenn ein unkomplizierter Check möglich ist. Sie bekam zeitnah einen Termin, konnte abklären, was los ist. „Ich bin sehr vorsichtig und will wissen, ob da was ist.“ Die Survivor-Sprechstunde findet in den normalen, sachlich eingerichteten Behandlungsräumen der Klinik statt. Die besondere Atmosphäre, in der sich die Betroffenen so gut aufgefangen und aufgehoben fühlen, entsteht vielmehr durch die Aufmerksamkeit und Zugewandtheit, mit der die Ärzt:innen und Therapeut:innen den jungen oder älteren Langzeitüberlebenden begegnen.
Nachsorge ist aktive Gesundheitsvorsorge
Für jeden Survivor wird angepasst an die persönlichen Bedürfnisse und Probleme ein weitergehender Nachsorgeplan erstellt. Die intensive Therapie nach Diagnose der Krebserkrankung ist wichtig, um die Betroffenen von der tödlichen Krankheit zu heilen. Allerdings sind diese Therapien nicht ohne Nebenwirkungen auf den Körper. Viele Chemotherapien und besonders die Strahlentherapie gehen mit einem erhöhten Risiko für zweite Krebserkrankungen und langfristige Schäden der Organe einher. Nachsorge in der Survivor-Sprechstunde bedeutet deshalb, gleichzeitig für die eigene Gesundheit vorzusorgen.
Kinder sind nach einer Krebstherapie oft noch sehr jung; der jüngste Leukämie-Survivor in Tübingen war zehn Jahre alt. Zur Einordnung: Etwa 2.000 Kinder und Jugendliche erkranken in Deutschland jährlich an Krebs. Die Zahl der Genesenen unter ihnen steigt stetig. Etwa 80 Prozent der an Leukämie erkrankten Kinder und Jugendlichen überleben diese bei ihnen häufige Krebsart durch inzwischen erheblich bessere Behandlungsmöglichkeiten. Jedes Jahr suchen 50 bis 60 Survivor die Tübinger Sprechstunde auf.
Vom Mut zur eigenen Wahrnehmung zu stehen
Nach dem Start 2021 erlebte die Sprechstunde „einen enormen Andrang“, erinnert sich Pia Sailer. Denn die Sorgen und Lasten bleiben auch nach einer erfolgreichen Behandlung. Oder kommen erst spät auf. Wenn etwa lange nach der offiziellen Genesung Erwachsene scheinbar aus dem Nichts Panikattacken bekommen. Wenn Autofahren zum Trigger wird: Da war jener junge Mann, der bei seinen Fahrten zur Arbeit regelmäßig aus dem Nichts Angstattacken bekam und sich nicht erklären konnte, wo diese herkamen. In den Gesprächen mit dem Therapeuten fand er heraus: Auf dem Fahrersitz musste er dieselbe, leicht vorübergebeugte Haltung wie bei Lumbalpunktionen während seiner Behandlung einnehmen. Es braucht durchaus zwei, drei Gespräche, um so einem verborgenen Auslöser auf die Spur zu kommen. Und um festzustellen, dass die verdrängten Ereignisse aus der Vergangenheit sehr direkt auf die Gegenwart einwirken können. Pia Sailer weiß von einer Frau, die inzwischen selbst Kinder hat und sich sorgt: „Werden meine Kinder das jetzt auch bekommen?“ Es kämen häufig Menschen im Alter zwischen 50 und 60 Jahren in die Survivor-Sprechstunde, beobachte sie. „Oft gibt es diesen Trigger. Da merkt man: Es muss etwas passiert sein. Man spürt, wie stark diese Erlebnisse in der früheren Kindheit und Jugend das ganze Leben begleiten.“
Die Gespräche mit dem Psychoonkologen Thomas Bäumer tragen zur besseren Selbstwahrnehmung und so zur Stärkung des Selbstbewusstseins bei: „Man fühlt sich besser, wenn man klar sagen kann: ‚Das nehme ich so oder so wahr‘.“ Mit dieser Erkenntnis und mehr Selbstsicherheit wäre es ihr während der Schulzeit leichter gefallen, nicht am Sportunterricht teilnehmen zu können: „Das ging bei 40 Grad im Sommer einfach nicht.“
„Ich möchte einfach eine richtig gute Ärztin werden“
Inzwischen lernt Pia Sailer bei 30 oder schon mal 40 Grad durchaus für ihr Studium und arbeitet nebenbei an ihrer medizinischen Dissertation zu erblichen Tumorerkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Sie überlegt, nach dem Abschluss Kinderärztin oder Allgemeinärztin zu werden. „Mal sehen, wo die Reise hingeht. Ich möchte einfach eine richtig gute Ärztin werden. Ich bin ein verspielter Charakter und kann gut mit Kindern.“ Ihr geht es im Wesentlichen um ein gutes Verhältnis zwischen ihr und ihren künftigen Patient:innen: „Ich hatte selbst so einen Arzt in meiner Therapie. So eine vertrauensvolle Patientenbeziehung ist unglaublich wichtig.“